Warum Punktebewertungen von Weinen hilfreich und sinnvoll sind
Zwei entscheidende Faktoren trugen in den 1980er-Jahren zum kometenhaften Aufstieg von Robert Parker als Weinkritiker bei. Um dies zu verstehen, sollte man sich die Welt der Weinkritik in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren vor Augen führen. Damals waren detaillierte Beschreibungen einzelner Weine, wie sie heute üblich sind, kaum verbreitet. Stattdessen standen oft die Weingüter oder Châteaux im Fokus, und alte Klassifikationen wurden als unantastbar angesehen. Es galt als undenkbar, dass ein 2ème oder 3ème Grand Cru Classé in einem Jahrgang qualitativ besser sein könnte als ein 1er Grand Cru Classé.
Ein Wendepunkt war das berühmte «Judgement of Paris» im Jahr 1976, bei dem französische Spitzenweine aus Bordeaux und Burgund blind gegen kalifornische Weine verkostet wurden. Überraschenderweise erhielten die kalifornischen Weine höhere Bewertungen. Dies sorgte für Entrüstung unter einigen französischen Weinkritikern, die sogar ihre Bewertungsbögen zurückforderten, um die Ergebnisse «korrigieren» zu können. Steven Spurrier, der Organisator, verweigerte diese nachträgliche Änderung, was in Frankreich für Empörung sorgte – schliesslich war man überzeugt, dass französische Weine per se überlegen seien.
Ein Vorläufer moderner Weinkritik war Robert Finigan, der in seinem „Robert Finigan’s Private Guide to Wines“ erstmals einzelne Weine detailliert beschrieb. Doch Robert Parker brachte mit seiner Punktebewertung von Weinen eine bahnbrechende Innovation, die zum ersten Grund für seinen Erfolg wurde.
Der zweite Grund war Parkers präzise Einschätzung des Bordeaux-Jahrgangs 1982 bei der Primeurverkostung. Während viele Kritiker diesen Jahrgang als frühreifen Blender mit begrenztem Lagerpotenzial abtaten, erkannte Parker dessen außergewöhnliche Qualität. Seine Einschätzung begründete seine heutige Reputation.
Obwohl Parker als Weinkritiker kontrovers gesehen wird, ist die Kombination von detaillierten Weinbeschreibungen mit einer Punktebewertung eine der sinnvollsten Innovationen der letzten 50 Jahre in der Weinkritik. Dabei ist klar: Eine Punktebewertung allein sagt wenig über einen Wein aus. Die Beschreibung ist viel aufschlussreicher, wenn es darum geht, den Charakter eines Weins zu verstehen. Doch in Kombination mit einer Punktebewertung steigt der Informationsgehalt enorm.
Zwei Beispiele verdeutlichen dies:
Beispiel 1: Beschreibungen von Kelli A. White
- „A gorgeous, balanced bottle of wine that is still quite primary, though subtle secondary aromas are beginning to emerge. Red currants, plums, sandalwood, iron, mint and cigar box from the nose. On the palate the wine is perfectly poised, with soft red fruits elegantly framed by a fine acidity and dusty ripe tannins.“
- „A particular dense, powerful, decadent vintage of cabernet, especially for ***. Though the exuberant nose of tobacco, coffee, and raspberry paints an easy drinking picture, the palate is surprisingly tight for its girth. Strict tannins and a whip of acidity keep the fruit tightly bound. Perhaps in need of more time to unwind.“
Sind diese beiden Weine vergleichbar? Welcher ist der bessere? Ist der Qualitätsunterschied gross oder klein? Und welche Preisspanne – 20, 50 oder 200 Franken – rechtfertigt die Bewertung?
Beispiel 2: Klassische Weinbeschreibungen
- „Dunkles, tiefes Weinrot, ganz zartoranger Rand. Intensives, sehr klassisches Bouquet, wunderschöne Cassissüsse, Teakholznoten, Schwarztee, Noblesse pur. Delikater Gaumen, extrem feine Gerbstoffe, seidig, alles ist reif und harmonisch, endloses Finale mit Rauch, Trüffel, getrockneten Heidelbeeren und Lakritze.“
- „Sattes Purpur mit rubinrotem Rand. Komplexes würziges Bouquet mit reifen Pflaumen, Kardamom und Szechuan-Pfeffer, dahinter Holundergelee. Am kräftigen Gaumen mit engmaschigem Tanningerüst und fleischigem Extrakt, man spürt die ungestüme Kraft, die hier schlummert. Im gebündelten Finale kleine schwarze Beeren, Pfefferschoten und Brasiltabak, endet mit zarter Adstringenz. Auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr, mit einem Tick mehr Eleganz!“
Auch hier stellt sich die Frage: Sind diese Weine ähnlich gut? Welcher sticht hervor?
Die Kombination aus Beschreibung und Punktebewertung vermittelt ein umfassenderes Bild eines Weins als eine Beschreibung allein. Sie gibt zusätzliche Orientierung und hilft, die Qualität eines Weins klarer einzuordnen. Damit sind zwei verschiedene Perspektiven miteinander vereint: die qualitative und die quantitative Beurteilung. Dies erhöht die Aussagekraft der Bewertung aus mehreren Gründen:
- Klarheit und Vergleichbarkeit
Eine Punktebewertung fasst die Gesamtqualität eines Weins in einer einzigen Zahl zusammen. Das erleichtert den direkten Vergleich verschiedener Weine, unabhängig von ihrem Stil oder ihrer Herkunft. So kann man beispielsweise erkennen, ob ein Wein objektiv als hochwertig eingestuft wird, auch wenn der persönliche Geschmack von der Bewertung abweicht. - Ergänzung durch Detailtiefe
Während die Punktebewertung einen kompakten Eindruck vermittelt, liefert die Beschreibung die detaillierten Hintergründe: Welche Aromen und Strukturen machen den Wein besonders? Welche Stilistik verfolgt er? Die Beschreibung beleuchtet den Charakter des Weins und hilft, seine Eigenschaften besser zu verstehen. - Einordnung von Preis-Leistung
Punktebewertungen geben eine grobe Orientierung zur Qualität, während die Beschreibung hilft, den Wein in ein Preis-Leistungs-Verhältnis zu setzen. Ein Wein mit 92 Punkten und einer Beschreibung voller Komplexität und Eleganz rechtfertigt vielleicht einen höheren Preis als ein Wein mit ähnlicher Punktzahl, der als schlicht und unkompliziert beschrieben wird. - Abmilderung subjektiver Präferenzen
Die Punktebewertung abstrahiert ein Stück weit von persönlichen Vorlieben des Kritikers. Zwei Weine können ähnliche Punktzahlen erhalten, obwohl sie stilistisch sehr unterschiedlich sind – etwa ein kräftiger Cabernet Sauvignon und ein filigraner Pinot Noir. Die Beschreibung liefert den Kontext, um zu entscheiden, welcher Wein den eigenen Vorlieben besser entspricht. - Orientierung für Laien und Experten
Für Einsteiger bietet die Punktebewertung eine einfache Orientierungshilfe, während die Beschreibung für Kenner eine tiefere Einsicht in die spezifischen Qualitäten des Weins ermöglicht. So können beide Zielgruppen von der Kombination profitieren. - Reduktion der Subjektivität
Eine Beschreibung allein kann stark subjektiv wirken, da sie sehr von der Ausdrucksweise und den Vorlieben des Kritikers abhängt. Die zusätzliche Punktebewertung wirkt dieser Subjektivität entgegen, indem sie die Qualität in ein standardisiertes Format bringt.
Fazit:
Die Beschreibung macht den Wein lebendig und greifbar, während die Punktebewertung einen klaren Überblick und Vergleichbarkeit schafft. Zusammen liefern sie eine ganzheitliche Einschätzung, die sowohl emotionale als auch rationale Aspekte berücksichtigt – ideal für eine fundierte Kauf- oder Verkostungsentscheidung.
Hier noch die Auflösung zu den Verkostungsnotitzen: