Wie erkennt man die Trinkreife?

Es gibt nur eines was schlimmer ist als einen Wein zu früh zu trinken: ihn zu spät zu trinken. Das grösste Genusserlebnis ist es, einen Wein auf seinem Höhepunkt zu trinken, also dann wenn er seine optimale Trinkreife erreicht hat.

Dieser Zeitpunkt kann jedoch für jeden Weinliebhaber unterschiedlich sein – je nach seinen persönlichen Vorlieben. Jeder gute Wein durchläuft in seinem “Leben” nach der Abfüllung verschiedene Phasen, in denen er sein Aroma und auch seine Textur verändert. Viele Menschen bevorzugen junge, fruchtbetonte Weine mit frischem Duft und harmonischem Geschmack, während andere eher gereifte Weine bevorzugen, die sich durch komplexe Aromen auszeichnen, weniger Primärfrüchte enthalten, dafür aber besonders lang anhaltend sind.

Mindestens 80 Prozent aller weltweit produzierten Weine werden in den ersten ein bis zwei Jahren nach der Ernte getrunken. Diese Weine sind bereits sechs bis acht Wochen nach der Abfüllung trinkreif. Meist handelt es sich um Basis-, Liter- oder Gutsweine, die unkomplizierten Trinkgenuss bieten sollen. Es sind die meisten Weine, die du im Supermarkt oder Discounter finden kannst.

Hinweise zum Reifepotenzial

Das Reifepotenzial eines Weines hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, die nicht zuletzt seine Lagerfähigkeit beeinflussen. Dazu gehören der Extrakt (abhängig von Ertrag und Alter der Reben), der Restzuckergehalt, die Säure, der Tanningehalt und die Mineralität. All diese Faktoren werden wiederum durch die Rebsorte und das Terroir bestimmt.

Als Faustregel gilt: Je höher die Qualitätsstufe (bestimmt durch die Enge der Herkunft und/oder das Prädikat), desto mehr Reifepotenzial hat der Wein. Die engste Herkunft haben Weine, deren Trauben aus einem einzigen Weinberg oder einer einzigen Parzelle stammen. In Deutschland hat der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) die Lagen nochmals klassifiziert; die hochwertigsten Weine stammen aus so genannten Ersten Lagen und Grossen Lagen. In Österreich haben Weine mit DAC-Status – in den Regionen, die ihn vergeben – ein grösseres Reifepotenzial. In den romanischen Weinbauländern Europas (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) wird die Enge der Herkunft durch den AOP- bzw. DOP-Status angezeigt. Das Prädikat – relevant für deutsche und österreichische Weine – richtet sich nach dem Mostgewicht der Trauben, also der Summe der gelösten Extraktstoffe.

Phasen des Reifeprozesses

Ein junger Wein ist wie ein kleines Kind: ungestüm, ein wenig wild, der Charakter noch nicht voll entwickelt. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, evtl. Holz) sind noch nicht integriert und stehen vielleicht noch “nebeneinander”: Jede Komponente ist für sich präsent und identifizierbar. Vor allem die Säure kann in dieser Phase recht dominant (manchmal scharf) sein, ebenso das Holz, das mit seinen Rauch-, Röst-, Vanille- und Karamellnoten alle anderen Aromen überdecken kann, und bei Rotweinen das Tannin, das ein pelziges, trockenes Gefühl auf der Zunge hinterlässt. Die Frucht ist in dieser Phase intensiv und erinnert an frisches Obst, je nach Rebsorte auch an Gemüse oder andere Pflanzen.

Nach einiger Zeit kommt der Wein in die Pubertät»: Er wird unzugänglich, verschlossen und unharmonisch. In dieser Phase findet eine chemische Umwandlung statt. Die einzelnen Inhaltsstoffe reagieren miteinander, Aromabindungen lösen sich auf und verbinden sich neu, die Frucht tritt zurück, Säure, Tannin und Holz werden nach und nach eingebunden. In dieser Phase, die meist mehrere Jahre dauert, ist der Wein kein Genuss und eigentlich nicht trinkbar. Er braucht Ruhe und soll sich im Keller ungestört entwickeln.

Nach Abschluss des Ausbaus ist der Wein sozusagen erwachsen. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, Holz) sind nun harmonisch miteinander verbunden, neue Aromen sind hinzugekommen, der Wein ist komplexer und eleganter geworden und hat sein inneres Gleichgewicht gefunden; sein Charakter ist voll ausgebildet. Die Fruchtaromen sind nicht mehr so vordergründig, sondern etwas zurückhaltender, dafür aber vielschichtiger. Mit zunehmender Reife treten sie mehr und mehr zurück und werden von herbstlichen» Aromen (Nüsse, Erde, Pilze, Blätter) abgelöst. Die Tannine werden mürbe, die Textur wird weich, geschmeidig und vollmundig. Die Farbe wird dunkler: goldgelb bei Weissweinen, bräunlich bei Rotweinen.

Es folgt die Degenerationsphase: Der Wein “stirbt” langsam. Die Farbe verliert an Glanz und wird immer dunkler (bei Weissweinen bernsteinfarben bis braun, bei Rotweinen ziegelrot bis rotbraun), die Frucht verschwindet völlig, das Aroma wird immer erdiger und würziger, schliesslich diffus und dumpf; die Textur wird stumpfer, die Tannine spröde, die einzelnen Komponenten lösen sich wieder aus ihrem Verbund, Säure und Bitterstoffe bleiben schliesslich als “Skelett” zurück.

Insofern lassen sich – wie hier bereits geschehen – Analogien zwischen der Entwicklung eines Weines und den Lebensabschnitten eines Menschen oder der Abfolge der Jahreszeiten ziehen. Die optimale Trinkreife erreicht ein Wein in seiner Reifephase bzw. in seinem “Sommer”. Diese Phase nimmt bei Spitzenweinen die längste Zeit ihres “Lebens” ein und erstreckt sich über mehrere Jahre. Die Trinkreife ist also eigentlich kein Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum. Um diesen Zeitraum abzuschätzen, kann man sich an den oben genannten Anhaltspunkten orientieren. Es kommt immer auch auf die Lagerbedingungen an, unter denen der Wein gereift ist. Im Zweifelsfall hilft nur eines: Probieren!

Das Alterungsverhalten vorhersagen

Um abzuschätzen, wie sich ein Wein in Zukunft entwickeln wird, kann man ihn kontrolliert der Luft aussetzen, denn der Einfluss des Sauerstoffs ist die Hauptursache für die Veränderung der Aromen und der Textur des Weins im Laufe der Zeit. Ein Wein, der nach einem, zwei oder drei Tagen in der geöffneten Flasche oder in der Karaffe nicht zusammenbricht oder sogar noch besser wird (komplexer, harmonischer, geschmeidiger), hat ein grosses Reifepotenzial (mehr als fünf Jahre).

Dieses Experiment sollte jedoch vor allem mit jungen Weinen durchgeführt werden. Alte Weine neigen dazu, sich an der Luft schnell und unaufhaltsam zu zersetzen. Ein junger Wein, der nur wenige Stunden an der Luft überlebt, hat kein Reifepotenzial und sollte in den nächsten Monaten getrunken werden.

Trinkreife

Die meisten Weinführer und Kritiker geben explizite Trinkempfehlungen: Sie geben den Zeitraum an, in dem sich der jeweilige Wein bei richtiger Lagerung (dunkel, eher kühl und bei konstanter Temperatur) voraussichtlich positiv oder zumindest nicht negativ entwickeln wird.

Darüber hinaus bieten beispielsweise die Weinzeitschrift “Vinum” wie auch die Seite von Rober Parker detaillierte Trinkreifentabellen für die Jahrgänge einzelner Weinbaugebiete.

Kommentare

  1. f43ea792b6a13c8994c9503450fb9c86?s=54&d=mm&r=g
    Yves 21/04/2023 at 10:46 - Reply

    Sehr schöner Text. Man kann förmlich mit dem Lebenszyklus des Weins mitfiebern.